Vwexport1300, VW Käfer Baujahr 1966, Crop, Blur, Text von GeschichtsCheck, CC BY-SA 3.0
Lesestoff
Würde man eine Hitliste von unter Historiker*innen umstrittenen Erzählungen über die Vergangenheit aufstellen, fände sich das „Wirtschaftswunder“ vermutlich auf einem der vorderen Plätze. Über dieses „Wunder“ zu sprechen und zu streiten fällt schon deshalb schwer, weil eine breite Öffentlichkeit fest davon überzeugt ist, dass sich in Nachkriegsdeutschland wundersame Dinge zugetragen haben. Als im Jahr 2015 Hunderttausende Menschen nach Deutschland flohen, sah Daimler-Chef Dietmar Zetsche darin die „Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder“.1 Wenige Wochen später dankte Bundeskanzlerin Angela Merkel den „Gastarbeitern“, die von 1955 an im Rahmen von Anwerbeabkommen ins Land gekommen waren. Sie hätten „Deutschland mit seinem Wirtschaftswunder, von dem wir heute sprechen, geholfen und daran mitgearbeitet“.2 Tatsächlich gibt es in vielen Familien Geschichten darüber, wie man sich in den 1950er und 1960er Jahren wieder Dinge leisten konnte und allerlei technisches Gerät (etwa Waschmaschinen) den Alltag zu erleichtern begann. Nach den Entbehrungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit war der wirtschaftliche Aufschwung danach in der Tat eine positive Entwicklung für sehr viele Menschen.3
Aber war diese Entwicklung, die da passierte, wirklich ein „Wunder“, noch dazu ein spezifisch „deutsches“? Ein rationaler Anhaltspunkt dafür könnten historische Daten zum Bruttosozialprodukt (BSP) sein; also vereinfacht gesprochen die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert worden sind.4 Entsprechende Datensätze, bereinigt um Währungs- und Kaufkraftschwankungen, gibt es etwa aus dem niederländischen „Maddison Project“.5 Überträgt man die Daten dieser Forscher*innen in ein Diagramm, scheint sich eine besondere Entwicklung in Westdeutschland zunächst zu bestätigen:
Bruttosozialprodukt in Int.$, Kaufkraftbezugsjahr 1990, ausgewählte Staaten, basierend auf The Maddison Project, http://www.ggdc.net/maddison/maddison-project/home.htm, 2013 version [17.11.2016].
Bruttosozialprodukt in Int.$, Kaufkraftbezugsjahr 1990, ausgewählte Staaten, basierend auf The Maddison Project, http://www.ggdc.net/maddison/maddison-project/home.htm, 2013 version [17.11.2016].
Dass es in großen Teilen Europas einen massiven Wirtschaftsaufschwung gab, scheint außer Frage zu stehen. Aber warum genau das so war, darüber bestand lange Zeit und teils bis heute Uneinigkeit unter vielen Wirtschaftshistoriker*innen. Was Westdeutschland betraf, so betonten einige den Beitrag der alliierten Besatzungsmächte für einen völligen Neuanfang in Westdeutschland; also vor allem die Währungsreform 1948 und die Wirtschaftshilfen im Rahmen des Marshallplans. Andere argumentierten mit langen wirtschaftlichen Zyklen, die mit dem Wiederaufbau und den Effekten des Koreakrieges zusammengefallen seien. Wieder andere gingen von einer Art Nachholeffekt nach dem Weltkrieg aus. Inzwischen tendieren viele Historiker*innen dazu, diese Erklärungsansätze zu kombinieren: „Ohne die auf dem Wachstumspotential beruhende Rekonstruktionsleistung hätte der liberalisierte Weltmarkt nicht so effektiv genutzt werden können“, schrieb Hans-Ulrich Wehler dazu. „Und ohne den in der Tat einem Strukturbruch gleichkommenden Wandel in der Wirtschaftspolitik und der internationalen Institutionen hätte sich wiederum die Rekonstruktion nicht in so phantastisch kurzer Zeit als geradezu revolutionärer Umbruch auswirken können.“8
Was das „Wirtschaftswunder“ selbst angeht, so scheint sich dieser schon in den 1950er und 1960er Jahren benutzte Begriff9 über die Jahrzehnte hinweg verselbstständigt zu haben. Er wird heute oft als allgemeine Referenz genutzt (siehe oben), um sich an Zeiten zu erinnern, in denen es Deutschland wirtschaftlich gut ging. Dass die Ursachen dafür vielfältig waren und die deutsche Wirtschaftsleistung in Europa durchaus nicht einzigartig, kann dabei leicht in Vergessenheit geraten. Selbst wenn es nach streng wissenschaftlicher Auffassung ohnehin keine „Wunder“, sondern nur Ursache und Wirkung gibt, ist es wohl eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob man heute noch von einem „Wirtschaftswunder“ sprechen möchte. Die Nutzung des Begriffs jedenfalls wäre ohne Zweifel eine Geschichte für sich.