Das Grundgesetz ist die Grundlage des politischen Handelns in Deutschland. Eine gültige Verfassung sei es aber trotzdem nicht, argumentieren gerade „Reichsbürger“ gern, und ohnehin es sei nicht gültig, weil das deutsche Volk nie darüber abgestimmt habe – so argumentieren diese Menschen, die an der Existenz der Bundesrepublik Deutschland zweifeln. Dem ist nicht nur aus politikwissenschaftlicher und verfassungrechtlicher Perspektive, sondern auch aus historischer Perspektive zu widersprechen.
Tatsächlich war das 1949 verabschiedete „Grundgesetz“ zunächst als Provisorium und nicht als dauerhafte „Verfassung“ des neu zu gründenden westdeutschen Staates gedacht, zumal der Name zum Ausdruck bringen sollte, dass die Teilung des deutschen Staates nicht endgültig sein würde.1 Erst im Laufe der Beratungen im Parlamentarischen Rat wurden immer mehr Elemente in das Dokument aufgenommen. Letztendlich erfüllte es von Beginn an wesentliche Kriterien, die Verfassungen üblicherweise ausmachen: Das Grundgesetz definierte nicht nur die politische Struktur der Bundesrepublik als neuem deutschen Staat und den Aufbau und die Funktion seiner Organe, sondern auch zentrale Grundrechte, die jedem Menschen gleichermaßen zukommen sollten.2
Es gab immer wieder Überlegungen, das Grundgesetz durch eine „Verfassung“ im Wortsinne zu ersetzen,3 letztlich wurde es aber nur immer wieder überarbeitet und erweitert. Der Bundesrepublik Deutschland eine neue Verfassung zu geben, etwa im Zuge der Wiedervereinigung mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), wäre durchaus möglich gewesen,4 letztlich entschied man sich aber immer für eine Überarbeitung bzw. im Falle der Wiedervereinigung für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes.5
Dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland noch heute als Rechtsgrundlage der Bundesrepublik dient, ist weniger einem Mangel an Kreativität oder Alternativen als dessen Belastbarkeit geschuldet: Es hat sich bewährt, und dass selbst in schweren politischen Krisen wie dem „Deutschen Herbst“ 1977, als Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ das politische System an die Grenzen seiner Belastbarkeit brachten. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) gab später zu Protokoll, er sei sich eines Verstoßes gegen das Grundgesetz bewusst gewesen, als er dem Chefredakteur der Zeitung „Welt“ auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors im Jahr 1977 drohte (dieser hatte Informationen veröffentlichen wollen, die von Terroristen genommene Geiseln hätten gefährden können).6
Entworfen wurde das Grundgesetz 30 Jahre zuvor im Parlamentarischen Rat, einer von den westlichen Besatzungsmächten (USA, Frankreich, Vereinigtes Königreich) eingesetzten Versammlung, in die 65 Mitglieder aus den damaligen westdeutschen Landtagen entsandt wurden.7 Seitens der Siegermächte gab es klare Vorgaben, was die Grundzüge des zukünftigen Staates anging: Die Einrichtung einer parlamentarischen Demokratie und die Schaffung eine Bundesstaates waren nicht verhandelbar, genauso wenig wie die Gewährleistung individueller Freiheiten.8 Die neuere Forschung zeigt, dass die Alliierten bei aller Kompromissbereitschaft in Detailfragen ihre Interessen durchzusetzen wussten und beispielsweise auch nicht davor zurückscheuten, Mitglieder des Parlamentarischen Rats während der Beratungen in den Jahren 1948/1949 abzuhören.9
Das am 8. Mai 1949 beschlossene Grundgesetz wurde zunächst vier Tage später durch die drei westlichen Militärgouverneure genehmigt, vom 18.-21. Mai 1949 zusätzlich durch die elf Landtage ratifiziert (Bayern lehnte das Grundgesetz zunächst ab, erkannte es aber an, da alle anderen Bundesländer zugestimmt hatten) und am 23. Mai 1949 ausgefertigt und verkündet.10 Obwohl die Aliierten also tatsächlichen maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des Grundgesetzes nahmen, wurde es letztlich in einem demokratischen Prozess mehrheitlich angenommen: „Weil letztlich der Bundesrepublik Deutschland kein fremdes Staatssystem aufoktroyiert wurde, kann das Grundgesetz zu Recht als ein selbständiges Werk der Deutschen gelten, wenn auch nicht ganz frei von Fremdeinflüssen“,11 resümiert der Historiker Michael F. Feldkamp in seiner Arbeit zum Thema. Ob man auch diese „Deutschen“ direkt über das Grundgesetz abstimmen lassen müsste, zählte von Anfang an und bis zuletzt zu den unter den Abgeordneten, aber auch den Militärgouverneuren umstrittenen Fragen12. In den Londoner Beschlüssen aus dem Frühjahr 1948 war eine solche Abstimmung vorgesehen,13 letztlich entschied man sich dennoch dagegen – wohl auch aus praktischen Gründen: Der Wiederaufbau war in vollem Gange. Auch 1990 stellte sich diese Frage erneut, wieder kam man ohne Volksabstimmung aus.
Heute kann die inzwischen vollständig souveräne Bundesrepublik selbst Änderungen am Grundgesetz vornehmen. Lediglich die Menschenwürde, die bundesstaatliche Gliederung, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat sind von der „Ewigkeitsklausel“ geschützt und können nicht gestrichen werden.14 Ob jemand in seinen Grundrechten verletzt wird oder ein Gesetz gegen das Grundgesetz verstößt, prüft in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht.15 Über Änderungen entscheiden die gewählten Mitglieder des Bundestags und die ebenfalls durch Wahlen demokratisch legitimierten Mitglieder der im Bundesrat vertretenen Länderregierungen.16
Ohnehin lässt sich anhand der Existenz eines wortwörtlich als „Verfassung“ überschriebenen Textes nicht „der Staat“ festmachen: In Ländern wie dem Vereinigten Königreich17 oder Neuseeland18 gibt es keinen Text, den man als „die“ Verfassung bezeichnen könnte – trotzdem würde niemand diesen Ländern unterstellen, keine Demokratie oder gar kein Staat zu sein.
Eine Verfassung ist insofern keine Voraussetzung, sondern eine Ausprägung von Staatlichkeit, die sich im Zeitverlauf verändern kann. Ein Staat im eigentlichen Sinn wird durch seine Akzeptanz von einer breiten Mehrheit legitimiert. Was das Grundgesetz als verfassungsmäßige Grundlage des deutschen Staates betrifft, so geben Entstehungsgeschichte, Weiterentwicklung, Anwendung und Anerkennung über Jahrzehnte hinweg keinen Anlass zu Zweifeln an seiner Gültigkeit und demokratischen Legitimation.