Was meint der Begriff „Völkerwanderung“?

By Team GeschichtsCheck, 2. Dezember 2016

Auf einen Blick

  • Der Begriff „Völkerwanderung“ hat verschiedene Bedeutungen, wird aber vor allem mit der Spätantike und dem Ende des Weströmischen Reiches in Verbindung gebracht
  • Auch die Einwanderung der Europäer nach Nordamerika kann als Völkerwanderung bezeichnet werden
  • Die Völkerwanderung der Spätantike war nicht die einzige Ursache für den Untergang Westroms, sondern eine Folge innerer Instabilität
  • Heute wie damals handelt es sich nicht um wandernde Volkseinheiten, sondern vor allem um flüchtende Einzelgruppen

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Lesestoff

Der Begriff „Völkerwanderung“ hat verschiedene Bedeutungen: Umgangssprachlich meint er die Abwanderung einer weitgehend geschlossenen Gruppe von Menschen, um sich an einem anderen Ort anzusiedeln. Geschichtswissenschaftlich bezeichnet er seit dem 19. Jahrhundert den Übergang zwischen der Spätantike und dem Frühmittelalter ungefähr zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert. Diese Zeit war eine Epoche großer Umbrüche, in die das Ende des Weströmischen Reiches und die Entstehung neuer Staatsgebilde fällt.1 Fasst man den Begriff historisch etwas weiter, kann man aber auch andere Ereignisse wie die Auswanderung von schätzungsweise 30 Millionen Europäern nach Amerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Völkerwanderung bezeichnen.2

Gleiches gilt für die aktuelle Flüchtlingssituation. Hier sollte man aber beachten, dass der Begriff vor allem mit Bezug auf die – auf den ersten Blick negativen – Ereignisse am Ende der Antike gebraucht wird, um der momentanen Situation einen zerstörerischen Beigeschmack zu verleihen. Indem man diese als „Völkerwanderung“ bezeichnet, impliziert man, dass die Menschen, die derzeit aus verschiedenen Teilen Vorder- und Zentralasiens sowie Afrikas nach Europa flüchten, eine einheitliche Gruppe, ein „Volk“, wären. Tatsächlich sind es aber kleinere Gruppen mit sehr unterschiedlichen kulturellen und nationalen Backgrounds – wie auch im Fall der Spätantike.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive handelte es sich bei dieser Zeit zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert tatsächlich um eine Phase der Veränderungen. Diese waren sehr komplex und wurden nicht von „wandernden Völkern“ hervorgerufen.3 Vielmehr waren sie das Ergebnis einer mehr als 200 Jahre andauernden inneren Krise, die zum Ende des Weströmischen Reiches führte. Dessen letzter Kaiser wurde im Jahr 476 abgesetzt. Die Konflikte wurden hervorgerufen durch instabile Machtgefüge. Gegenkaiser und die zeitweise Abspaltung von Gebieten im Osten und in Gallien führten zu mehreren Bürgerkriegen. Zudem schwächten eine schwere Wirtschaftskrise und das Erstarken des Sassanidenreiches im Osten das Römische Reich. Diese Phänomene zeigen, wie schwierig es war, das riesige und multikulturell geprägte Gebiet einheitlich zu verwalten. Kaiser Diokletian sah schließlich gegen Ende des 3. Jahrhunderts die Lösung darin, das Reich in zwei Teile – Ost- und Westrom – zu teilen, die je von einem eigenen Kaiser regiert werden sollten. Auf Dauer schwächte das den Zusammenhalt aber noch mehr.4

Schon weit vor der Völkerwanderung hatten die Kaiser begonnen, Mitglieder der umliegenden Völker, etwa der Goten oder der Franken, im eigenen Reich als Soldaten und Bauern anzusiedeln.5 Diese Gruppen kamen in friedlicher Absicht und stiegen zum Teil in hohe politische und militärische Ämter auf. Zugleich drangen Reiterstämme aus dem Osten (meist unter „Hunnen“ subsumiert) in Richtung Römisches Reich vor. Ihre Kriegszüge veranlassten Teile anderer Stämme, dort Schutz zu suchen. Das waren aber keine „Völker“, sondern eben unterschiedlichste Einzelgruppen aus dem germanischen Raum. Insgesamt stieg die Zahl der Migranten wohl nie über ein bis zwei Prozent der Einwohner des Reiches.6

Nur in Kombination mit der inneren Instabilität des Reiches konnten diese Ereignisse dazu führen, dass die über viele Jahrhundert erfolgreich betriebene Integration von Mitgliedern verschiedenster Kulturkreise in die römische Gesellschaft, die innovative Mischung aus Eigenem und Neuem, nun ein Ende fand. Antigermanische Einstellungen nahmen vor allem im Westreich zu. Sie führten wiederum zu Ressentiments auf Seiten der Germanen – und nicht anders herum. Aus diesen und dem durch die innere Krise entstandenen Machtvakuum erwuchsen Parallelgesellschaften und gewalttätige Aktionen der eingewanderten Stämme im Inneren des Reiches.7

Gleichzeitig war die Völkerwanderung nicht nur eine Zeit des Untergangs, sondern auch vieler Neuanfänge, die bis heute nachwirken. Zum einen blieb das Oströmische Reich noch 1000 weitere Jahre bestehen. Zum anderen gründeten die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit auf dem Gebiet Westroms neue Staaten, aus denen später etwa das Frankenreich hervorging. Auch das Westgotenreich in Spanien und das Vandalenreich in Nordafrika hatten bis zur arabischen Eroberung Bestand. Karthago in Nordafrika erlebte in dieser Zeit nachweislich eine neue Blüte. Diese Staaten bauten auf bestehendes Wissen auf, um die instabilen Strukturen in neue, beständige Verwaltungen zu transformieren.8

Wenn man heute den Begriff „Völkerwanderung“ benutzt, geht es oft vor allem darum, ein Bild von etwas Unkontrollierbarem heraufzubeschwören, – ähnlich wie mit Begriffen wie „Flüchtlingswelle“ oder „Flüchtlingsflut“. Tatsächlich aber zeigt die Forschung, dass sich der Begriff nicht einfach dadurch definieren lässt, wie viele Menschen sich mit welchem Ziel wie weit bewegen. Vielmehr dauerte der Prozess am Ende der Spätantike mehrere hundert Jahre. Auch waren die Umstände und die Zeiträume gänzlich andere als heute. Und schließlich wollten die unorganisierten Gruppen, die sich im Römischen Reich ansiedelten, dieses nie zerstören. Zwar führte die Völkerwanderung in letzter Konsequenz tatsächlich zum Ende des Römischen Reiches. Der Grund dafür waren aber dessen innere Instabilität, die kulturelle und politische Spaltung und die zunehmende Ablehnung von Menschen, die vorher lange und erfolgreich eingeladen wurden und sich nun in Parallelgesellschaften organisieren mussten.

Die über 200 Jahre dauernde Phase der Völkerwanderung als einheitliche Entwicklung zu sehen, die sich mit dem Heute vergleichen lässt, erscheint deshalb sehr abwegig. In der gleichen Zeitspanne fanden etwa auch alle Ereignisse von der Französischen Revolution bis zum Mauerfall statt – oder eben die Hauptphase der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer. Sie gründete ebenso auf Flucht vor (religiöser) Verfolgung, Hungersnöten, Kriegen wie auf der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dabei waren die kulturellen Backgrounds der Europäer ebenso vielfältig wie diejenigen der ins Römische Reich eingewanderten Menschen oder der Flüchtlinge aus den muslimischen Ländern heute. Den Begriff Völkerwanderung für solche Ereignisse zu verwenden, ist deshalb nach dem heutigen Stand nicht mehr zeitgemäß und oft einfach falsch. Zudem können sie, wie die historischen Beispiele zeigen, ganz unterschiedliche Entwicklungen hervorrufen. Und wenn man sich fragt, was man aus der Zeit der Spätantike für die derzeitige Situation lernen kann, wäre das, vor lauter Kontrolle und Bürokratisierung den Kontakt zu den Menschen – den einheimischen wie den neu hinzukommenden – nicht zu verlieren.

  1. Hubert Fehr; Philipp von Rummel: Die Völkerwanderung, Stuttgart 2011. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. 2. Auflage. Stuttgart u. a. 2005. []
  2. Nicholas J. Evans: Indirect passage from Europe. Transmigration via the UK, 1836–1914, in: Journal for Maritime Research, Volume 3, Issue 1, 2001, 70–84. []
  3. Alexander Demandt: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, 2. Auflage, München 2014 – enthält 227 verschiedene Ursachen, die man in den Jahrhunderten historischer Forschung für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich gemacht hat. []
  4. Olivier Hekster: Rome and its Empire. AD 193–284. Edinburgh 2008. Christian Körner: Transformationsprozesse im Römischen Reich des 3. Jahrhunderts n. Chr. In: Millennium. Bd. 8, 2011, S. 87–124. David S. Potter: The Roman Empire at Bay. AD 180–395. London u. a. 2004. []
  5. Thomas S. Burns: Barbarians within the Gates of Rome. A Study of Roman Military Policy and the Barbarians (ca. 375–425). Indiana 1994. []
  6. Walter Pohl, Helmut Reimitz (Hg.): Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800. Leiden u. a. 1998. Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Frankfurt am Main 2002. Walter A. Goffart: Barbarians and Romans AD 418–584. The Techniques of Accommodation. Princeton 1980. []
  7. Gy Halsall: Barbarian Migrations and the Roman West, 376-568, Cambridge 2007. []
  8. Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800, Oxford 2005. Blütezeit in Karthago: Philipp von Rummel über die Vandalen in Afrika, in: Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart. Blog zur Vorlesungsreihe des Forschungsclusters Topoi im Sommersemester 2016. Das Ende, das keines war: Stefan Esders über den Untergang des Römischen Reiches, in: Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart. Blog zur Vorlesungsreihe des Forschungsclusters Topoi im Sommersemester 2016. []