Stammen wir von den Germanen ab?

By Team GeschichtsCheck, 18. Oktober 2016

Auf einen Blick:

  • Es gab nie ein ethnisch oder kulturell einheitliches Volk der Germanen. Das Gebiet „Germanien“ erhielt seinen Namen als Fremdbezeichnung von den Römern.
  • In diesem Gebiet lebten verschiedene Gruppen bzw. Stämme, die sich bis zur Spätantike immer wieder veränderten und verschoben.
  • Die archäologischen Erkenntnisse zeigen dabei andere Gruppenzuteilungen, als man aus römischen Quellen kennt.
  • Dass die Vorgänger Deutschlands von den „klassischen“ Germanen gegründet wurden, ist eine rückblickend konstruierte Traditionslinie.

Im Bild

Archäologische Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt( Philippe Saurbeck), Germanischer Schmuck, Crop, Blur, Text von GeschichtsCheck, CC BY-SA 2.0 DE

Lesestoff

Der Begriff „Germanen“ stammt von den Römern. Er ist eine Fremd- und Sammelbezeichnung für jene Menschen, die nordöstlich des Römischen Reiches lebten. Er wurde vor allem von Gaius Iulius Caesar (100-44 v.Chr.) in Abgrenzung zu den „Galliern“ (lateinisch für Kelten) geprägt, die er im Raum des heutigen Frankreich, der Benelux-Länder, Österreichs und der Schweiz verortete. Diese Gebiete wurden im 1. Jahrhundert v.Chr. von den Römern erobert, während „Germanien“ großteils unabhängig von Rom blieb. Verbreitet wurde der Begriff „Germanen“ vor allem durch Tacitus’ Schrift „Germania“ (um 110 n.Chr.).1 Das Gebiet der Germanen umfasst danach ungefähr die heutigen deutschen Grenzen. Dies ist aber nicht kulturell oder ethnisch bedingt, sondern durch den Wissensstand der Römer über ihre Nachbarn im Nordosten, der hinter der Elbe endete. Die Grenzen Germaniens definierten sich also durch das Nicht-Wissen der Römer.

„Germanen“ ist dabei ein geographisch bedingter, aber kulturell begründeter Sammelbegriff, der eine Vielzahl an Kulturgruppen und Stämmen umfasst. „Die Germanen“ gab es nie. Vielmehr lebten in dem als Germanien bezeichneten Raum verschiedenste Gruppen von Menschen in unterschiedlichsten, nicht-staatlichen Gesellschaftsformen. Ihre Selbstbezeichnung kennen wir nur zum Teil und oft erst aus der Spätantike. Tacitus erzählt in der ′Germania′ von diesen Stämmen.2 Sie lassen sich archäologisch aber in den Gebieten, die Tacitus den einzelnen Gruppen zuordnet, kaum als einzelne, unterscheidbare Stämme fassen. Vielmehr kann man innerhalb des Raumes Germanien Unterschiede beispielsweise in den Grabsitten und verschiedenen Objektgattungen feststellen, die aber nicht auf Kulturen oder Stämme verweisen müssen und auch nicht an der Elbe enden.3

Der Begriff „Germanen“ entstand also vor allem aus dem Bedürfnis der Römer, diese Menschen in ihrer Gesamtheit von sich und von den anderen ihnen bekannten Kulturen, wie den Galliern oder Britanniern (die auch keine einheitlichen Gruppen waren), regional und kulturell abzugrenzen.4 Regional und kulturell gehören dabei nach römischer Auffassung zusammen und bedingen sich gegenseitig.5 Demnach gab es auch keinen Kampf der Germanen gegen die Römer, sondern einen Zusammenschluss der an den römischen Grenzen lebenden Stämme gegen die Unterwerfung durch die Römer. Eine kulturelle Verschmelzung der Germanen zu einem Volk lässt sich aber nicht festmachen und bis zur Spätantike gab es auch kaum schriftliche Informationen von den Germanen über sich selbst. Deshalb unterscheiden Archäologen eher nach Objektgruppen in Kulturgruppen. So spricht Tacitus zum Beispiel von kleinen Gruppen wie den Hermunduren, Sueben oder Cheruskern. Archäologisch sind aber nur größere Kulturgruppen fassbar, die nach den Regionen benannt werden, in denen ihre typischen Objekte vorkommen,beispielsweise Elbgermanen oder Rhein-Weser-Germanen.6

In der Spätantike (ab dem 4. Jahrhundert n.Chr.) begann sich das zu wandeln, als die römischen Grenzen anfingen zu schwächeln und die Menschen ins Reich drängten.7 Das betrifft aber nicht nur die sogenannten Germanen, sondern auch Gruppen, die weiter aus dem Osten oder Süden stammten. Hier fand eine „Vermischung“ der „klassischen“ mit den spätantiken Germanen statt. Diese „Migranten“ erwarben zum Teil hohe militärische und politische Ämter im Römischen Reich, eigneten sich die lateinische Sprache, römisches Wissen (z.B. über Schrift) und ein an den römischen Identitätsbegriff angelehntes Selbstbewusstsein an, das sie an ihre Angehörigen weitergaben.

Erst damit entstanden die ersten Schriften etwa der germanischen Stämme der Goten oder Vandalen, in denen sie sich selbst wiederum als Gegenbild zu den Römern darstellten. Die Schwäche des Römischen Reiches erweckte in ihnen das Gefühl, sich gegen dessen Übermacht behaupten zu können. Daraus entwickelten sich die ersten „germanischen“ Staaten, also großräumige Gebilde mit weitgreifender Verwaltung, in denen die Stammeszugehörigkeit ihre Bedeutung zugunsten eines Gemeinschaftsbildes verlor.8 Die Gruppen, die in dieser Zeit eine Rolle spielten und im Raum Germanien das Merowinger- oder das Frankenreich begründeten, waren aber nicht mehr Tacitus‘ „Germanen“, sondern Goten, Vandalen, Franken oder Sachsen.

Sie breiteten sich dann vom germanischen Raum über die ehemaligen römischen Grenzen hinaus aus – die Sachsen beispielsweise nach Südengland, die Vandalen bis nach Nordafrika und die Goten bis nach Oberitalien. Diese Staaten hielten sich, abgesehen vom Frankenreich, nicht lange und zerfielen wiederum in Kleinstaaten, die zum Teil nach den Stämmen benannt waren.

Fragt man, ob wir heute von diesen spätantiken Gruppen „abstammen“, könnte man das wohl tatsächlich vorsichtig bejahen (außer vielleicht im Norden, wo die skandinavischen Kulturen großen Einfluss hatten). Auch wenn es nach der Gründung des Frankenreiches im 8. Jahrhundert n.Chr. kaum größere Bevölkerungsverschiebungen von außerhalb dieser Reiche in sie hinein gab, läge ein gemeinsamer Ursprung ungefähr 80 Generationen zurück. Dabei ist aber zu beachten, dass es die Germanen als solche nie gab und dass die Stämme der späteren Jahrhunderte sich selbst nicht als Germanen bezeichneten und zum Großteil aus Gebieten außerhalb Germaniens gekommen waren. Wenn man uns als Nachfahren der spätantiken Germanen betrachten würde, würde das auch für einige Engländer, Norditaliener, Schweizer, Österreicher oder Franzosen gelten. Der Mythos um Arminius/ „Hermann den Cherusker“ und „die deutsch-germanische Identität” verbreitete sich erst ab dem 16. Jahrhundert.9

  1. zum Germanen Begriff: Dieter Timpe: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde. I. Geschichte, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 11, Berlin/New York 1998, S. 181–245. Zu Tacitus’ Schrift Germania: Stephan Schmal: Tacitus. Hildesheim 20164; Ursula Blank-Sangmeister: Wir und die anderen. Caesar und Tacitus über fremde Völker. Göttingen 2009. []
  2. Dieter Timpe/ Herbert Jankuhn (Hg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986. []
  3. zur archäologischen Forschung: Friedrich Prinz: Deutschlands Frühgeschichte. Kelten, Römer und Germanen. Stuttgart 2003; Uta von Freeden/ Siegmar von Schnurbein: Spuren der Jahrtausende. Archäologie und Geschichte in Deutschland. Stuttgart 2003. []
  4. Herwig Wolfram: Die Germanen. Beck’sche Reihe, München 20099. []
  5. Craige B. Champion (Hg.): Roman Imperialism. Readings and sources, Malden – Oxford – Carlton 2004. []
  6. Karl R. Krierer: Antike Germanenbilder, Archäologische Forschungen 11, Wien 2004. []
  7. Bruno Bleckmann: Die Germanen. Von Ariovist zu den Wikingern. München 2009; Arnulf Krause: Die Geschichte der Germanen, Frankfurt am Main 2005. []
  8. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. Stuttgart u. a. 20052. []
  9. Heinrich Beck/ Dieter Geuenich/ Heiko Steuer/ Dietrich Hakelberg (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 34, Berlin u. a. 2004; Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen, München 2011. []